Julia Culen schreibt in einem eigenen Blog über mögliche und aktuelle Fehlentwicklungen im Bereich Agiler Software-Entwicklung aus ihrer Erfahrung. Sie befürchtet, dass diese zu einem "Zurückschlagen des Pendels" in die falsche Richtung führen könnten und zählt deshalb 15 "Mythen" auf, wie sie bestimmte, überzeichnete Regeln der Selbstorganisation nennt, die sie für potentiell kontraproduktiv hält.


  1. Hierarchien seien grundsätzlich schlecht. Hierarchien seien immer vorhanden, selbst wenn man sie formell abschafft. Dann entstehen informelle Hierarchien ohne klar definierte Zuständigkeiten / Verantwortlichkeiten. Es geht vielmehr darum, Hierarchien klare Regeln zu geben.
  2. Chefs seien schlecht und gehören abgeschafft.Es ist nicht das Problem, dass Chefs grundsätzlich schlecht seien, sondern dass es viele schlechte Chefs gebe. Es geht also darum, die Qualität der Chefs zu verbessern.
  3. Agilität steige, wenn alle mitreden.Wenn immer alle mitreden, kann dies zu einer "Komplettlähmung" des Teams führen. Gute Ideen werden unterdrückt, weil sich ängstliche und defensive Haltungen durchsetzen, Zitat: "Es gibt nichts Ungerechteres als Gleichmacherei".
  4. Die Motivation steige, wenn sich alle einbringen können. Das ist in etwa dasselbe wie das zuvor geäußerte Argument, zusätzlich wird jedoch erkannt, dass dann die Motivation aller sinkt. Einbringen ja, aber im Rahmen des Aufgabenbereiches und nicht ständig. 
  5. Wenn sich alle mit ihren Ideen einbringen können, dann werde man innovativer. Julia Culen warnt vor überzogenen Erwartungen, räumt jedoch ein, dass auch Innovation Richtung und Führung benötigt. Folgende Fragen sind wichtig (Zitat): "In welche Richtung sollen wir denken? Mit wem arbeiten wir zusammen? Wie kommt das Neue in die Welt?"
  6. Man könne Probleme über die Veränderung der Organisationsstruktur lösenEine alte, immer wiederkehrende, falsche Vorstellung ist die Lösung aller Probleme durch Reorganisation. Sie gab es schon lange vor agile, new work etc. Es werden die alten Probleme nicht gelöst damit, sondern nur neue Probleme hinzugefügt wie Verunsicherung, lange Instabilitäten, Frust. Wichtig ist vielmehr, sich die wirklichen, hinter den Problemen stehenden offenen Fragen zu beantworten, wie "was ist unser Sinn und Zweck?", "wie wollen wir künftig Geld verdienen?" oder "was sichert unser Überleben". Nur die strategischen Leitplanken zu erkennen und zu benennen ist Grundlage für positive Veränderungen.
  7. Die Menschen fühlen sich ohne Hierarchien oder in flachen Hierarchien wohler. Das mag für einige erfahrene Projektarbeiter gelten, aber laut einer Studie, die derzeit an der Uni Wien durchgeführt wird, wünschen sich Studienabgänger eher klare Hierarchien mit Führung, um den Aufstieg zu erleichtern. 
  8. Alle Mitarbeiter/innen seien Mini-Unternehmer. Man sollte die Fähigkeiten der Mitarbeiter nicht grundsätzlich unterschätzen, allerdings auch nicht überschätzen. Die Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten und Unternehmertum ist nur eine dieser Fähigkeiten. Man sollte grundsätzlich die Fähigkeiten nutzen, aber nicht von jedem/r Mitarbeiter/in Unternehmerfähigkeiten erwarten.
  9. Selbstorganisation sei ein Selbstläufer, wenn sie mal läuft. Das ist falsch, es muss ständig nachjustiert und durch Energiezufuhr von außen am Laufen gehalten werden: Zitat "durch Geld, Innovation, Erfolg, Richtung, Wertschätzung und persönlicher Beziehung". Ein Rückgang der Energiezufuhr kann gefährlich werden. 
  10. Führung könne durch eine "soziale Technologie" ersetzt werden. Eine Autorität, die die Einhaltung von Regeln überwacht, ähnlich einem Schiedsrichter, wird immer benötigt. Vollkommen führungslose Entwicklung führt zum Chaos. Man benötigt darüber hinaus einen Coach, der "fordert und fördert", Potentiale erkennt und motiviert. Das bedeutet allerdings nicht, dass er ständig vorschreibt, wie man etwas zu tun hat. 
  11. Selbstorganisation könne man am Markt einkaufen. Das ist falsch, denn Selbstorganisation muss, wie der Name sagt, sich selbst organisieren. Einkauf am Markt ist eine Standardorganisation, die gekauft wird. Selbstorganisation ist ein sich ständig selbst verstärkender und verbessernder Lernprozess. Dabei kann man sich durchaus von Experten, die eingekauft werden, helfen lassen.
  12. Die Organisationsform sei entscheidend für den Markterfolg. Das ist in dieser Ausschließlichkeit nicht korrekt. Vielmehr entscheiden das Geschäftsmodell, der Markt, das Umfeld, die Technologie, die Umstände usw. über den Geschäftserfolg, nicht einmal eine gute Führung ist hinreichend (allerdings notwendig). Dabei ist das Produkt der wesentliche Erfolgsfaktor. 
  13. Selbstorganisation sei dazu da, dass sich jeder / jede selbst verwirklichen kann. Diese Vorstellung birgt viel Enttäuschungspotential. Wer sich selbst verwirklichen will, muss ein eigenes Unternehmen gründen, denn noch bestimmen die Eigentümer, nicht die Mitarbeiter. 
  14. In hierarchischen Unternehmen gebe es noch keine Selbstorganisation. Selbstverständlich gibt es auch dort Selbstorganisation, ohne diese würde nichts mehr funktionieren. 
  15. Selbstorganisation sei vorwiegend eine Frage von Struktur und Arbeitsmodus und nicht von Kultur, Mindset und Führung. Das ist nicht korrekt, man kann Selbstorganisation zwar als technologische Regel einführen, aber es würde keine Veränderung bewirken, wenn sich die grundsätzliche Haltung ("mindset") nicht verändert. Nur eine Kultur von Transparenz, Vernetzung, Vertrauen, Zusammenarbeit und Öffnung, aber auch eine gemeinsame Richtung und Regeln können eine erfolgreiche Transformation in Richtung einer Selbstorganisation erreichen. 

Fazit: Neue Organisationsformen mit einer Mischung aus Selbstorganisation und klaren Spielregeln, neue Ideen und eine kraftvolle Führung können einen Weg ebnen, um erfolgreiche Unternehmensführung zu bewirken. Oder wie mancher sagt: "Ich wünsche mir Anarchie - aber mit einem mächtigen Anarchen an der Spitze"

Siehe auch: 15 Mythen über Selbstorganisation